Im Venedig des Nordens 



In St. Petersburg kann es vier Jahreszeiten an einem Tag geben. Man reiche dazu: Atemberaubende Aussichten auf Kunst- und Architekturschätze, herzhafte Gerichte und seelenvolle Menschen.
2016
 

Sie steht seit über 300 Jahren auf einem Sumpfgelände, da, wo die Newa in die Ostsee mündet. Sie hieß Petrograd, auch Leningrad, heute nennen sie die Einwohner liebevoll „Piter“. St. Petersburg ist die nördlichste Metropole Europas. Russlands glanzvolles „Fenster zum Westen“ ist von zaristischem Erbe und moderner Aufbruchsstimmung gleichermaßen geprägt. Dem durch das Meer diktierten Klima trotzt sie mit stoischer Gelassenheit: Man sagt, wer das Wetter hier nicht mag, der soll fünf Minuten warten – dann gibt es wieder Sonne. Oder Schnee. Hinter dem für Touristen aufpolierten Zentrum verbergen sich aber noch ganz andere Seiten der 7-Millionen-Stadt.

Wahrzeichen in Reih‘ und Glied. Den besten ersten Eindruck verschafft man sich zu Wasser: Eine Bootsfahrt auf der mächtigen Pulsader, der Newa, führt an der Peter-und-Paul-Festung, dem historischen Kern der Stadt, vorbei. Die vergoldete Spitze der Kathedrale, einer überdimensionalen Nadel gleichend, ist ein Spiegelbild des Admiralitätsturms auf der anderen Flussseite und weithin sichtbar. Gleich neben diesem liegt die Eremitage. Katharina die Große gründete das Kunstmuseum, das dem Beinamen ihrer Schirmherrin alle Ehre macht: Würde man jedem der mehr als 60.000 Exponate nur eine Minute Zeit widmen, wäre man über 40 Tage beschäftigt. Skurriles Highlight: Eine vergoldete Uhr, bei der zur vollen Stunde ein Pfau sein Rad schlägt, ein Hahn kräht und eine Eule den Kopf verdreht. Weitere Wahrzeichen, die nicht nur vom Wasser aus beeindrucken: Der Winterpalast, die Isaakskathedrale, der Eherne Reiter, Standbild des Zaren Peter des Großen, und natürlich die Erlöser-Kirche auf dem Blut, deren auffälliger Baustil bewusst an die altrussische Kunst erinnert.

Weite Plätze, wahre Schätze. Aber auch zu ebener Erd‘ weiß St. Petersburg zu beeindrucken. Der Palastplatz zwischen dem breit angelegten Newski-Prospekt und der zur Wassili-Insel führenden Schlossbrücke war Schauplatz historischer Einschnitte wie der Oktoberrevolution 1917. Heute ist der großzügig angelegte Platz vor allem in den lauen Weißen Nächten im Juni und Juli ein idealer Ort zum Flanieren und Verweilen für Einheimische und Touristen. Folgt man dem Newski-Prospekt in Richtung Fontaka-Fluss passiert man das „Dom Knigi“, das Haus der Bücher. Ein besonderes Paradies für alle, die das geschriebene Wort sowie außergewöhnliche Kunstwerke aus Papier lieben. Biegt man in Seitenstraße ein, locken Delikatessen-Läden mit allerlei erwarteten und unerwarteten Spezialitäten und Köstlichkeiten. Es lohnt sich daher, mit offenen Augen durch St. Petersburg zu schlendern – und natürlich sollte man sie keineswegs vor dem verschließen, was sich unter der Erde befindet: Die U-Bahn-Stationen im Stadtzentrum sind ungemein prunkvoll ausgestattete, von Nationalstolz durchzogene Demonstrationen von Größe und Kraft. Marmorböden, klassizistische Säulen, prachtvolle Kronleuchter oder feinst gearbeitete Mosaike muten wie das festliche Interieur eines Ballsaals an – wären da nicht die ratternden, etwas abgenutzten Waggons, die links und rechts durch die Stationen sausen. Eine Fahrt mit der im Jahr 1955 eröffneten und unglaublich günstigen (50 Cent pro Eintritt) Petersburger Metro sollte man sich entgehen lassen: Hier fühlt man sich in Sowjetunions-Zeiten zurückversetzt. Wegen des feuchten Untergrunds der am Wasser gebauten Stadt mussten die U-Bahn-Tunnel übrigens besonders tief gegraben werden – bis zu 100 Meter unter der Erdoberfläche ruckelt man dahin, zum nächsten Ziel.

Das Leben der Vororte. Die St. Petersburger lieben ihre staubige, große, weite, offene und majestätische Stadt. Sie lieben es aber auch, am Wochenende aufs Land zu fahren: Entweder auf eine Datscha, um sich bei guten Gesprächen und Tee zu entspannen, oder in einen der vielen angenehmen und gepflegten Vororte. Besonders hervorheben kann man beispielsweise Puschkin, etwa 25 km südlich des Zentrums. Hier steht der Große Katharinenpalast, einstige Residenz der Zaren, der nach dem Zweiten Weltkrieg möglichst originalgetrau wieder aufgebaut wurde – inklusive dem berühmten Bernsteinzimmer. Die schiere Größe und der Prunk des Palastes sind beeindruckend, die lieblichen und gepflegten Parkanlagen regen aber noch mehr zum Staunen an. So harmonisch schmiegen sich Bau- und Naturkünste hier ineinander, dass trotz der enormen Ausmaße ein heimeliger Eindruck entsteht. Wahrlich pompös – und das ganz gewollt – geht es dagegen in Peterhof zu, einer Palastanlage 30 Kilometer westlich von Sankt Petersburg. Peter I. errichtet sich hier das „russische Versailles“ mit allem, was dazu gehört: Einem herrschaftlichen Schloss, einem eleganten Park und sowie einer eindrucksvollen Springbrunnen-Kaskade, mit direktem Blick auf den Finnischen Meerbusen. Wer hier nicht alles andere vergisst und ganz im Moment lebt, der ist wohl für wenig empfänglich für von Menschenhand erschaffene Schönheit.

Die Vergangenheit atmen. Wieder zurück in der Stadt empfiehlt es sich zumindest einmal bis zwei Uhr morgens für einen nächtlichen Spaziergang auszuharren. Denn dann öffnen sich die großen Brücken, bedächtig und ohne Eile, um Handelsschiffe passieren zu lassen. Erst um fünf Uhr morgens schließen sie sich wieder, damit der enorme Verkehr der Metropole nicht ins Stocken gerät. Das Schauspiel der Brückenöffnung ist einzigartig, majestätisch und symbolträchtig für den Austausch zwischen Grenzen und für das kulturelle Geben und Nehmen, das St. Peterburg seit jeher prägt. Bis es soweit ist, kann man sich die Zeit mit etwas Kultur vertreiben: Eine Ballett-Aufführung, beispielsweie, im Mariinski-Theater entführt in die Vergangenheit: Die Innenausstattung des Hauses sowie der typische „Pausensnack“ (eine Scheibe Weißbrot mit Butter und rotem Kaviar, danach eine Mini-Schokostange mit einem Gläschen Cognac) versetzen das geneigte Publikum mindestens um 100 Jahre zurück. Selbiges gilt auch für die traditionelle Küche, die von den Russen und Russinnen geliebt und hochgehalten wird. Klassische Suppen wie Borsch (nur stilecht mit ganz viel Smetana, dem sehr cremigen Sauerrahm), das ursprünglich orientalisches Reisgericht Plov oder Blini (Palatschinken) in pikanten oder süßen Variationen gibt es überall – und das so gut wie immer in hervorragender Qualität.

Wer mit Russen diskutiert: Der braucht vor allem eines – viel Zeit. Gastfreundschaft ist eine hohe Tugend in Russland. Bevor ein Gespräch in die Tiefe vordringen kann (und darf), muss ausgiebig gespeist werden, so besagt es eine alte Tradition. Süßes gibt es zwar gerne und häufig, die wahre Nachspeise ist aber der Tee („Chai“), bei dem man sich entspannen und Gedanken austauschen kann. Teebeutel sind für dieses Zeremoniell absolut ungeeignet und daher ein echtes No-Go: Als Nachbarland Chinas wird die Teekultur des Ostens, in der qualitativ hochwertige Blüten und Blätter mehrmals aufgebrüht werden, in Russland sehr geschätzt. Wodka als Dessert ist übrigens nicht vorgesehen, maximal nach der Sauna („Banya“), wenn der Körper gereinigt und mit heißfeuchten Birkenzweigen genüsslich durchgeklopft wurde, gibt es ein Stamperl zur Gesundheit. Für alle, die glauben, ein „Nastrowje“ wäre jetzt angebracht: Es heißt „za Starowje“ (zu Deutsch: „Auf die Gesundheit“). Der in der restlichen Welt verbreitete Trinkspruch ist in diesem Kontext schlichtweg falsch.

Hinter der Politur. Natürlich sind das Zentrum der Stadt sowie die für Touristen unentbehrlichen Attraktionen in den Vororten aus Kalkül mit besonders viel finanzieller Zuwendung bedacht worden. Woanders fehlt das Geld. Sobald man in weniger schicke und gefragte Gegenden vordringt, stechen Baufälligkeit und Armut ins Auge. Automassen schieben sich an einheitlichen, grauen Plattenbauten aus früheren Zeiten vorbei, daneben halten an kleinen Obstständen ältliche Verkäuferinnen Obst, Gemüse und Blumen zu Spottpreisen feil. Auch das ist St. Petersburg: Seit drei Jahren sind die Sanktionen der EU gegen Russland in Kraft, der Wechselkurs schwächelt bei 64 Rubel für einen Euro dahin, für viele Russen ist die Lebensqualität enorm gesunken. Das dichte Korruptionsnetzwerk, das die politische Führung des Landes seit Jahrzehnten fest durchzieht, trägt ihres dazu bei, dass den Menschen immer weniger zum Leben bleibt. So bleibt ein teilweise bitteres Gefühl zurück beim Gedanken an diese wunderschöne Stadt, die so viel gibt, so viel hat und so viel ist.