Wo Gott gar nicht erst tot war



In Susdal warf der atheistische Sozialismus bereits 1967 das Handtuch. Mutmaßungen über eines der schönsten Kleinode in Russland.
8. 2011
 

Geschüttelt wie ein Longdrink kommen die Passagiere mit dem Linienbus aus Wladimir, wo der Schnellzug von Moskau nach Nischni Novgorod Station macht, nach etwa einer Stunde Fahrtzeit in Susdal an. Nicht nur wegen der miserablen Stoßdämpfer scheint dieses in die Jahre gekommene Fahrzeug kaum für den Transport von Touristen gedacht zu sein. Susdals Busbahnhof liegt am Rande der Stadt. Wer ins Zentrum will, muss ein weiteres Ticket lösen – der Bus bleibt derselbe. In der Stadt selbst winken wir uns einen innen unangenehm nach Tankstelle riechenden aber nichtsdestotrotz gemütlichen Wolga herunter. Der ältere Herr, der sich wie viele Russen ein kleines Zubrot mit Spontanfahrten verdient,  hat uns - auf neugierige Fragen kurz angebunden antwortend - rasch beim Hotel abgesetzt.

Beschaulich gibt sich die Kleinstadt, sofern sie eine ist. Eher ein Großdorf, in dem heute an die 12.000 Menschen leben. Zu Gesicht bekommt der Besucher die Einwohner nur vereinzelt. Nicht einmal einen Lageplan als Lotsen braucht man hier. Was das "Dorf" zu zeigen hat, ist sowieso nicht zu übersehen. Wie sakrale Leuchttürme geben unzählige Kirchen Orientierung, sowohl topografisch als auch geistig.

In dem erstmals 1024 erwähnten Ort stellt sich rasch das Gefühl ein, dass es hier unmöglich ist, Gott zu ignorieren. Ebenso, dass jeder Versuch sinnlos wäre, sich vor Ihm zu verbergen. Gott ist hier stetiger Begleiter, er scheint hier alles zu sehen und zu hören. Und doch hat man den Eindruck, dass er dabei nicht in der Manier eines „KGB-Spitzels“ auftritt, der jeden abweichenden Schritt notiert, um ihn später zu bestrafen, sondern offen und transparent, ohne Tarnung, mit wohlwollender Gesinnung, eher mütterlich behütend als väterlich streng. Gott scheint es sich hier wohnlich gemacht zu haben, wie jeder Susdaler sonst auch.

Das Göttliche zeigt sich in Susdal in unterschiedlichsten Facetten – bei der bedeutenden Maria Schutz Kirche anders als etwa bei der Roshdestwenski-Kathedrale im Susdaler Kreml, beim Prokow- und Spassokloster wiederum anders wie beim Jewfimiewski-Kloster.  Zum Ausdruck kommt dabei eine Vielfalt, die sich nicht nur in unterschiedlichen Baustilen manifestiert. Auch der Standpunkt des Betrachters spielt eine Rolle. Wenn man sich den Kirchen von unterschiedlichen Richtungen her annähert tun sich immer neue Aus- und Einblicke auf. Das geht soweit, dass manchmal der Eindruck entsteht, es handle sich um eine andere Kirche. Architektur und Anlage der Stadt vermitteln damit nicht nur den Eindruck der Allgegenwart Gottes, sondern auch von dessen Unfassbarkeit.

Diese permanente Präsenz transzendenter Symbole sollte es Einwohnern wie Besuchern schwer machen, an der Existenz Gottes zu zweifeln. Den „atheistischen“ Kommunisten muss dieser Ort mit seiner spirituellen Kraft geradezu unbezwingbar erschienen sein. Vielleicht hatten sie deshalb gar nicht erst versucht, die Parole „Gott ist tot“ umzusetzen, als sich 1967 der Ministerrat der damaligen Sowjetunion entschied, Susdal zu konservieren.* Doch was wollte man den Besuchern aus den real existierenden, sozialistischen Bruderstaaten – westliche Touristen hatte es damals wohl kaum gegeben – zeigen? Das freundliche Gesicht Gottes, seine Schönheit oder gar seine Existenz? Das wäre ideologisch wohl kontraproduktiv gewesen. Es mutet daher wie ein Ablenkungsmanöver an, dass man die Hauptverkehrsrouten – ob Schiene oder Straße – abseits von Susdal führte. Nicht allzu viele «Genossen» sollten auf das Kleinod stoßen.

Aber nicht nur von der Ausmerzung des Religiösen sondern auch von der Zurückdrängung des Individuums zugunsten des Kollektivs blieb Susdal verschont. So sucht man hier die in der ganzen Sowjetunion verbreiteten Plattenbauten vergeblich. Nicht nur die Kirchen wurden also erhalten, sondern auch die vorrevolutionären, oftmals kunstvoll gestalteten Einfamilienhäuser aus Holz, von denen keines dem anderen gleicht und die der ganze Stolz des jeweiligen Besitzers sind. Vielleicht ist Susdal damit heute jene Kleinstadt in Russland, in der die charakteristische Holzarchitektur des ländlichen Raumes am besten erhalten ist. Wohl nicht zufällig beherbergt Susdal heute auch ein Freilichtmuseum für Holzarchitektur.

Eine Million Menschen besuchen jährlich die Stadt am Goldenen Ring. Die Nähe zu Moskau scheint dabei Segen und Fluch zugleich zu sein. Die Frequenz an Tagestouristen ist zwar hoch, die Tagesausflugsdistanz zur Metropole verhindert jedoch, dass es trotz schöner Hotel-Anlagen viele Nächtigungen gibt. Die ansässige Bevölkerung hat sich mit dieser Situation arrangiert. An den "Anlegestellen" der Reisebusse sind zahlreiche Marktstände positioniert, an denen die typischen Souvenirs angeboten werden. Die Zahl der Verkaufsbuden übersteigt hier manchmal sogar jene rund um den Roten Platz in Moskau. Susdal würde größere Wertschöpfung verdienen. Aber vielleicht feilschen die Menschen dort nicht um jeden zusätzlichen Rubel, weil ihre Stadt sie seit jeher lehrt, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt.



* Die kommunistischen Machthaber haben es mit ihrer atheistischen Doktrin nie so genau genommen und sie für opportunistische Zwecke immer wieder aufgeweicht. So hat etwa Stalin, obwohl er die inzwischen wieder aufgebaute Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau für den größten aber nie realisierten "Zuckerbäckerbau" hat schleifen lassen, bald wieder die Zusammenarbeit mit der orthodoxen Kirche gesucht, als es darum ging, das bedrohlich gefährliche Hitlerdeutschland niederzuringen.