Es reichte nur für die Fassade

Nichtahned, daß es der letzte Lohn für lange Zeit sein würde, verbrauchte Moskau den ersten kapitalistischen Rubel beim Besuch der Kosmetikerin.
12.6.2000
 

Wer – transportiert von der schönsten U-Bahn der Welt – das Stadtzentrum der guten alten Dame an der Moskwa betritt, traut den Augen kaum! Da blendet ein Glanz, der so manche reiche „westliche“ Innenstadt in den Schatten zu stellen scheint, da begegnen Menschen in einer Schlichtheit, einem Stil und einem Gefühl für Ästhetik, die beschämen, da scheint als Luxus ein Maß an Muße vorhanden, das neidisch macht. Das düstere Bild, das westliche Medien von Moskau und damit von Rußland zeichnen, will zu diesen Eindrücken ganz und gar nicht passen.

Und doch, es genügt, die stattlichen Boulevards in Richtung Hinterhöfe und Seitengassen zu verlassen oder den Fuß in zentrumsferne Stadtgebiete zu setzen, um das wahre Ausmaß der Realität zu empfangen: Ein potemkinsches Dorf zeigt sich, eine Stadt wie eine Filmkulisse, großstädtische Boulevards werden von schlichten Bürgerbauten eingefaßt, die man in jedem reiferen Provinznest findet. Abgehaust, darniedergewohnt, angefressen von den Ausdünstungen einer Zehnmillionenstadt, deren Einwohner täglich bewegt werden wollen, stehen die Bauten da, im Stich gelassen wie Weisenkinder, errichtet und nie mehr gepflegt.

Das Fassaden- und Camouflageartige, das Moskau heute kennzeichnet, ist Ausfluß des Aufschwungs nach dem Niedergang des Sowjetsystems. Es waren die erfolgreichen Jahre eines Kopfes, der vergaß, Rumpf und Gliedmaßen fit zu halten. Damals geriet die Stadt in den Ruf, am Puls der Zeit zu sein, die Boheme blühte auf. Junge Menschen spürten eine magische Anziehungskraft von diesem urbanen Meltingpot ausgehen. Die Geschäftssinnigen witterten das große Geschäft – ganze Staatenbünde räumten ab – man kam, erntete und ging als die Taschen voll waren.

Im August vergangenen Jahres kam dann die große Geldentwertung. Das Kartenhaus fiel zusammen, der raketenhafte Aufschwung wurde rapide gestoppt. Abgesehen von einer mehr als beschränkten Renaissance der einheimischen Landwirtschaft - Brüssel konnte infolge der Preisexplosion Milchseen und Fleischberge nicht mehr in Rußland absetzen - fielen Metropole und - mehr noch - Provinz in ein tiefes Loch. Die Masse setzte unsanft am Boden auf, verlor alles, mußte neu beginnen und kann sich heute kaum mehr als das nackte Überleben leisten. Anderen blieb ein dezimiertes Leben, das aber immerhin noch Leben genannt werden kann. Nur die, die durch ihr Monopol auf Information kommen sahen, was kommen mußte, weil sie selbst Teil der Ursache waren, hatten ihre gefüllten Tresore längst im Westen stehen.

Heute mutet die Stadt wie ein gebrochenes Versprechen an. In die U-Bahnen ist der legendäre Ostblockblick zurückgekehrt. Regiert von korrupten Politikern, in Schach gehalten von mafiösen Strukturen, vom Westen zunächst ausgenützt und schließlich fallen gelassen, greift Perspektivenlosigkeit gefährlich um sich. Die Menschen fühlen sich unschuldig zur Depression und zum Stillstand verdammt. Nicht wenige Vertreter jener Aufbruchsgeneration, die vor Jahren in einer der zweifellos vielversprechendsten Metropolen der Welt aktiv geworden waren, wollen heute flüchten. „Weg von Moskau! Weg von Moskau!“ lautet die post-postkommunistische Version von Chechovs „Nach Moskau! Nach Moskau“.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würde man Lethargie und Lähmung als die auf alle Zukunft hin bestimmende Realität Moskaus erwarten. Gewiß, die Aussichten.der Stadt sind gegenwärtig triste. Aber selbst in der scheinbar totalen Krise atmet die Stadt ein enormes Potential. Man wird ein - wenn auch irrational anmutendes - Gefühl nicht los, daß die große Zeit, die goldenen Jahre Moskaus noch ausstehen. Dieser Optimismus wird vor allem dann bestärkt, wenn man die Moskauer in einer Mußestunde den Kampf ums tägliche Überleben vergessen sieht. Noch reichten die wenigen Jahre in Freiheit nur für die Fassade und die Zeit für eine nachhaltige Verbesserung scheint noch nicht reif. Aber frage nicht, wenn sich das russische Potential einmal enfalten kann.