Minsk verdient einen guten Ruf

Ungeachtet des diktaturähnlichen Systems in Belarus gilt es für Hauptstadt und Menschen des Landes eine Lanze zu brechen.
08. 2019
 
Das Umland endet und Minsk beginnt mit einem monumentalen Wohnblock wie aus dem Nichts. Elendslange Vorstädte wie sie für viele Metropolen charakteristisch sind, sucht man hier - zumindest bei der Einfahrt aus Brest kommend - vergeblich. Das könnte mit exponentiellem Wachstum zu tun haben, das Dorf um Dorf verschlungen hat. Ganz selten fallen kleine umzäunte, von riesigen Wohnblocks umzingelte Areale auf, in denen noch die traditionellen Einfamilienhäuser aus Holz überlebt haben. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Großteil der Stadt durch Kriegshandlungen so schwer in Mitleidenschaft gezogen, dass einem planmäßigen Neuaufbau der Stadt wenig entgegenstand. Minsk sollte zur Musterstadt des Sozialismus werden. Und so fiel eine Menge erhaltenswerter Substanz dem Modernisierungs- und Ideologisierungsdrang zum Opfer. So etwa das historische Viertel an der Ulica Niamiha im Zentrum.

Camouflage des Verbotenen

Die jüngere Minsker Architektur, die sich auch im Zentrum schon mitunter geradezu gigantomanisch erhebt, hat etwas stark Fassadenhaftes und damit auch Distanziertes. Hinter dem Unnahbaren hält sich das Private versteckt, das Individuelle verschwindet hinter dem sich immer wiederholenden Äußeren vielstöckiger Bauten, die sowohl in die Breite als auch in die Höhe streben. Im Inneren der Gebäudegiganten, also im Privaten, das von außen nicht sichtbar ist - so scheint es - sind die Gedanken frei. Die Staatsmacht konnte sie zu Sowjetzeiten und kann sie heute, wo die Diktatur noch immer nicht überwunden ist, nicht lesen. Die Gebäude spiegeln die aufgezwunge Harmonie eines geschlossenen Systems wider, wie sie typisch ist für sozialistische Städte, zugleich sind sie aber auch Schutz vor dem Offenbarwerden des Verbotenen.

Den Minsker Architekten ist es aber gelungen, die Gleichschaltung nicht zu monoton zu gestalten. Durch den Einsatz freundlicher Farben wirkt die Hauptstadt des Landes weder kühl noch trist. Mittels architektonischer Variation wird für Abwechslung gesorgt, auch wenn sie sich manchmal auf das Ornamentale beschränkt. Manche Gebäudekomplexe scheinen gar topografische Sehnsüchte befriedigen zu wollen, wie etwa der riesige Wohnblock nahe der Träneninsel im Fluss Svislac, der ein sich aufbäumendes Gebirge darzustellen scheint. Was gegenüber anderen Großstädten Osteuropas überrascht ist der gute Zustand all dieser monumentalen Bauten. Die Fassaden leuchten hell, scheinen gut renoviert, besonders wenn die alles verschönernde Kraft der Sonne hinzutritt.

Zwischen Phobie und Exhibitionismus

Ausgerechnet eines der interessantesten Gebäude der Stadt, das zwischen 1930 und 1934 vom belarusisch-jüdischen Architekten Iosif Langbards im Stil des Konstruktivismus errichtete Parlaments- und Regierungsgebäude* darf nicht fotografiert werden. Ein Verbot, das beispielhaft für die Phobie des Regimes zu stehen scheint. Dabei zählt dieses verblüffend zeitlos wirkende Gebäude sicher zu den architektonischen Highlights der Stadt. Weniger elegant, dafür aber um so spektakulärer ist die neue Nationalbibliothek, der sogenannte Diamant des Wissens, geraten. Eigentlich, um den Wissensdurst der Belarusen zu stillen, entstanden, ist es längst zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden, das tagsüber nicht nur weithin sichtbar wie ein Edelstein funkelt, sondern auch nachts durch ausgeklügelte Lichtspiele beeindruckt. Zudem ist das Dach des „Rombokubenoktaeders“ der beste Punkt, um sich einen Überlick über die Stadt zu verschaffen.

Auf der Couch von Minsk

Parlament und Nationalbibliothek markieren Anfang und Ende des Unabhängigkeitsprospekts (Niezalieznasci). Dazwischen bekommt man kilometerlang sowjetische Repräsentationsarchitektur serviert, die bald zur Ermüdung von Beinen und Aufmerksamkeit führt. Das heimelige und gemütliche Minsk findet sich hingegen in der Dreifaltigkeitsvorstadt und der historischen Oberstadt. Bei einer Konsumation in einem der stimmigen Lokale nahe des Svislac-Flusses, der sich dort zu einem kleinen See auswächst, lässt man das aufwühlende Großstadtgewimmel rasch hinter sich und gerät beim Beobachten der Tretboote im Fluss rasch in einen angenehmen Entspannungszustand.

Mobilität wird sanfter

Blendet man die politische Situation aus - man muss sie gar nicht ausblenden, man bekommt sie als Tourist gar nicht mit - präsentiert sich Minsk als überaus sympathische, freundliche und entgegen-kommende Stadt. Dieser überwiegend positive Eindruck setzt sich in sauberen Straßen, kultiviert fahrenden Autofahrern und in der relativ großen Zahl an Radwegen und -fahrern fort. Hier wird jedem Verkehrsteilnehmer ausreichend Platz, aber auch Gleichberechtigung eingeräumt. Wenngleich der Druck, den Autoverkehr im Hinblick auf den Platzverbrauch zurückzudrängen, hier weit nicht so hoch ist wie in den räumlich kleinteiliger strukturierten, alten Städten Mittel- und Westeuropas, so dürften doch Faktoren wie Lärm und schlechte Luftqualität dazu geführt haben, dass man auch hier neuedings auf sanfte Mobilität setzt.

Die zwei Seiten der Sicherheit

Bemerkenswert ist auch, dass man sich In Minsk jederzeit und überall sicher fühlt. Die vielen Frauen, die in der Nacht oft allein unterwegs sind, scheinen dies zu unterstreichen. Das lässt sich zwar im Prinzip für ganz Osteuropa sagen, aber hier gilt dies mehr als sonst wo. An den Haltestellen beim Transit durch Polen, war dieses subjektive Gefühl ganz rasch kleiner. Natürlich fragt man sich warum das so ist und warum man sich in Minsk sicherer als in Warschau fühlt. Die Belarusen gelten als besonders hilfsbereit. Der zweite Minsker, den ich nach meiner Ankunft am Busbahnhof um den Weg zum Hotel Sputnik gefragt habe, brach seine Fahrt Richtung Arbeit ab, um mich mit seinem Privatauto direkt zum Hotel zu bringen. Sicherheit durch freundliche, hilfsbereite Menschen könnte der Schluss sein. Hinter dem Faktum der erhöhten Sicherheit steht aber auch der autoritäre Staat, der Vergehen wohl mit härteren Strafen ahndet als anderswo. Beides dürfte stimmen, die Wahrheit in der Mitte liegen.

Brutstätte des neuen Belarus?

In einem ehemaligen Industrieviertel (an der Ulica Kastrychinitskaya gelegen) haben die jungen Leute von Minsk ein Refugium erhalten, das Sie sich ganz so zurechtzimmern können wie sie wollen. Die tristen Backsteinbauten wurden von Graffitykünstlern und Malern in spannende Streetart Kunstwerke verwandelt. In die einstigen Werkstätten und Industriehallen haben sich Galerien, Ateliers und Lokale eingemietet. Gastgärten und Bühnen breiten sich auf den Freiflächen des Werksgeländes aus. Ein reges Nachtleben findet statt, auch Touristen verirren sich immer öfter hierher. Und sicher wird hier – durch die staatliche Einschüchterung wohl etwas kleinlaut - über die Zukunft eines Landes diskutiert, das vor allem politisch noch in der Vergangenheit feststeckt und zuletzt immer mehr zum Spielball des neuen Ost-West-Konflikts geworden ist, der in den letzten Jahren schleichend seine Wiederauferstehung gefeiert hat. Doch in diesem hippen Viertel dürfte, abgesehen von den Spitzeln, die das Regime wie überall sonst wohl auch hierher einschleust, ziemlich klar sein, wer auf welcher Seite steht.

Ein Paradies für Frühstücker alten Schlages

Es gibt einen bestimmten Menschentyp, der unbedingt nach Minsk, aus demselben Grund sicher auch nach Belarus, vermutlich aber überall hin in diese Region, also auch nach Polen, Litauen und mindestens ins westliche Russland reisen sollte, nämlich jener der gerne ausgiebig, herzhaft und warm frühstückt. Wer sich beim ersten Essen des Tages gerne an südländische Gepflogenheiten hält, ist hier fehl am Platz. Denn er wird sich beim geradezu verschwenderischen Frühstücksbuffet, das beispielsweise aus paniertem Fisch, gekochten Fleischbällchen, faschierten Laibchen, gerösteter Leber, Kartoffelpuffern, Pute in Kartoffelteig, mit Topfen und Fleisch gefüllten Blinys, Spiegeleiern, warmem Buchweizen, Reis, Püree, allerlei geschmackvoll dressierten Salaten, knackigen Babygurken, Tomaten, Paprika, Räucher-und Frischkäse ... bestehen kann, ziemlich überfordert fühlen. Ich hab ein Frühstück - unwissend welches Schlaraffenland mich erwarten würde - für die erste Nacht im Sputnik dazugekauft und wusste nach der Morgenmahlzeit, dass ich für meinen Besuch in Minsk diesem Hotel treu bleiben würde.

Der Horror der Vergangenheit

In jedem Minsk-Reiseführer wird man auf Orte aufmerksam gemacht, die an die Schrecken der Zeit des Holocaust erinnern. Nahe dem heutigen Bezirk Niamiha lag das 1941 eingerichtete jüdische Ghetto. Es wurde 1943 durch die Ermordung aller noch dort lebenden Bewohner ausgelöscht. Schätzungen gehen davon aus, dass in den beiden Jahren von dessen Bestand bis zu 100.000 Menschen umgekommen sind. Auf dem ehemaligen Gebiet des Ghettos kann die Gedenkstätte Jam besucht werden. Sie wurde an jener Stelle errichtet, wo im März 1942 500 Juden, darunter auch viele Kinder erschossen worden waren. Im Gedenken an dieses schreckliche Geschehen hat ein Künstler eine berührende Plastik aus schwarzem Marmor erschaffen, die den Todesmarsch der Menschen zeigt. 12 Kilometer südöstlich vom Minsker Stadtzentrum errichteten die Nazis im Dorf Mali Tracscianiec ein Konzentrationslager, das nach der Zahl der Ermordeten das viertgrößte Vernichtungslager im Dritten Reich war. Auch viele österreichische Juden wurden in dieses Lager deportiert. In kaum einer anderen Stadt wüteten die Nazis und ihre Schergen mit solcher Brutalität und einem solchen Ausmaß wie in Minsk.

Die Hölle der Gegenwart

Belarus ist bis heute geprüft. Während in beinahe allen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks sich mehr oder minder demokratische Systeme etabliert haben, ist in Belarus mit A. Lukaschenka ein Mann an der Macht, der sein Land seit 26 Jahren mit eiserner, diktatorischer Faust regiert. Auch die Wahlen am 9. August 2020 gerieten wieder zur Farce, die kein Demokrat ernst nehmen kann: Oppositionskandidaten wurden weggesperrt, die Wahlen massiv gefälscht und Demonstrierende mit massivstem Gewalteinsatz attackiert. Doch die Kritik am Regime war noch nie so laut wie heute. Ein Ladenbesitzer in Minsk hat in Reaktion auf eine inoffizielle Umfrage ein T-Shirt mit der Aufschrift 3% bedrucken lassen; nur so wenige Belarusen sollen ihren Präsidenten noch unterstützen. Auch wenn dieser niedrige Zustimmungswert vermutlich nicht ganz realistisch ist, so zeigt diese Aktion doch den großen Hunger der Menschen nach einem Systemwechsel.

 


* Ein Foto des Gebäudes ließe sich allerdings organsieren, wenn sich jemand dafür interessiert.