Die Vitaminnation

Es gibt wohl kaum ein touristisches Bedürfnis, das Bulgarien heute nicht zu stillen vermag.
8. 2018
 

Bulgarien ist hauptsächlich wegen des Goldstrands am Schwarzen Meer bekannt. Ein Urlaub dort schont die Geldtasche. Der Rest des Landes wird meist links liegen gelassen. Das ist schade, denn Bulgarien hat viel zu bieten. Famos ist z. B. das ätherische Öl aus dem Tal der Rosen bei Kazanlak, das man am besten im Mai/Juni besucht, wenn die Damascener-Rosen in voller Blüte und zur Ernte bereit stehen. Ein Besuch dort fühlt sich wie ein Rendezvous mit der Liebe an; aber auch mit dem Tod, weil der Duft der Rosen frappant an den Odor von Begräbnissen erinnert. Rund um Kazanlak gibt es auch viele Zeugnisse der geheimnisvollen Kultur der Thraker. Im Tal der Könige haben sie zahlreiche Hügelgräber mit wertvollen Beigaben – viele aus Gold ­– hinterlassen. Die Thraker waren einst Schrittmacher für die gesamte Region. Sie begannen 3000 Jahre vor Christus im Nebel der Geschichte zu wirken und gelangten ins historische Bewusstsein, als die benachbarten Völker sie mit ihrer schriftlichen Kultur wahrzunehmen begannen. Die Griechen erwähnten die Thraker mit etwas Befremden als jenes Volk, das seinen Wein nicht mit Wasser mischen will. Die lange Tradition des Weinbaus ist wohl mit ein Grund, warum die Qualität der bulgarischen „Tropfen “ nicht selten besticht und die Weintempel, in denen sie präsentiert werden,  jenen in den großen westeuropäischen Weinländern um nichts nachstehen. Doch nochmals zurück zum Wasser: Aus den bulgarischen Leitungen fließt in der Regel nicht nur Wasser, das man bedenkenlos trinken kann, Bulgarien ist nach Island auch das europäische Land mit den meisten heißen Mineralquellen. Das dichte Netz von antiken Thermenanlagen zeigt, dass schon die Römer sie schätzten.   

Nur wenigen Europäern dürfte bewusst sein, dass der Mensch hier erstmals seinen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hat. Bulgarien ist die Wiege der menschlichen Zivilisation in Europa, war also schon besiedelt, lange bevor es überhaupt eine Idee von Athen und Rom, geschweige denn von London, Paris oder Wien gab. Auch für das Christentum hat Bulgarien eine große Bedeutung. Konstantin der Große, der dieser Religion zum Durchbruch verholfen hat, liebte Sofia über alles. Schon wollte er die Stadt, die mit ihrer 7000-jährigen Geschichte zu den ältesten Europas zählt, zur Reichsmetropole machen, um sich dann aus politisch-strategischen Überlegungen doch für Konstantinopel zu entscheiden. Ihm verdanken wir mit der Rotunde Sveti Georgi nicht nur das älteste noch erhaltene Gebäude Sofias, sondern eine der ältesten Kirchen des Kontinents. Weil wir schon bei den Religionen sind, darf die Jahrhunderte dauernde Dominanz des Osmanischen Reiches und des Islams nicht vergessen werden. Die Osmanen waren mehr oder minder tolerant und so kam es nicht zur Auslöschung des Christentums. Mit russischer Hilfe schüttelte man sie schließlich erfolgreich ab und das Christentum erlebte unter stark slawischer Prägung in der Wiedergeburtszeit einen zweiten Frühling. Aber auch das Judentum hatte einen guten Stand. Zuletzt im Zweiten Weltkrieg, als sich Bulgarien als einzige Nation, die von Hitler-Deutschland überfallen wurde, weigerte, die jüdische Bevölkerung der Vernichtung preiszugeben. In der prächtigen, vom österreichischen Architekten Friedrich Grünanger gebauten sefardischen Synagoge in Sofia, die die größte auf dem Balkan ist, gibt das Judentum noch heute ein kräftiges Lebenszeichen von sich.

Bulgarien, dessen Geschichte bis in die Vorzeit Europas zurückreicht, hatte noch in jüngster Zeit mit elementaren Problemen zu kämpfen. Mit Schrecken erinnern sich die Menschen an den Hungerwinter 1996/97.  Das Trauma, das er hinterlassen hat, dürfte sich noch heute auf die Gastronomie auswirken. Die Portionen, die dort aus den Küchen getragen werden, sind manchmal gigantisch, ebenso die Mengen an Schnaps, die zum Verdauen gereicht werden. Die Devise scheint zu lauten; man kann ja nie wissen, wann es wieder etwas zu essen gibt. Was kulinarisch besonders auffällt, ist die Vielfalt an Salaten, die die Speisekarten geradezu seitenweise füllen. Bulgarien setzt voll auf vitaminreiche Kost. Ein Urlaub dort schließt also nicht nur die Lücken im Geschichtswissen über Europa sondern ist auch eine äußerst gesunde Sache. Vor allem dann, wenn man nach dem Essen nicht ruht sondern tausend Schritte tut. Dazu hat man reichlich Gelegenheit, denn Bulgarien ist auch ein Wanderparadies. Dabei durchstreift man mystische Urwälder, die von wahrlichen Baumriesen bevölkert sind und in denen noch so manches Getier kreucht und fleucht, das andernorts längst ausgestorben ist. Auf den gewaltigen Gebirgszügen Balkan, Rila und Pirin wandert man an tiefblauen Gebirgsseen vorbei bis in schwindelerregende Höhen. Aber auch Wintersportler kommen in den Bergen Bulgariens voll auf ihre Rechung. So etwa im Wintersportzentrum Bansko am Fuße des 2914 m hohen Vihren im Pirin-Massiv. Das Schigebiet bietet Pisten jeden Schwierigkeitsgrades. Kein Wunder, dass auch der FIS Schiweltcup dort Halt macht. Die Herren geben sich heuer (2019) von 22. bis 24. Februar ein Stelldichein bei alpiner Kombination, Super G und Riesentorlauf. Ex-Schirennläufer Marc Girardelli hat das Schigebiet jüngst gekauft. Die intensive kommerzielle Nutzung des Pirin-Gebirges bleibt für die Natur natürlich nicht ohne negative Folgen, weshalb immer wieder Naturschützer dagegen Sturm laufen. Wen wundert´s, hat Bulgarien diesbezüglich doch viel zu verlieren, und dies nicht nur in den Bergen.