Rășinari ist nicht depressiv



Das Dorf nahe der rumänischen Provinzhauptstadt Sibiu widerspricht seinem weltberühmten Sohn.
8. 2009
 

Am Ende war alles anders. Am Anfang hatte man noch gedacht, dass die Straßenbahnschiene hinaus von Sibiu (Hermannstadt) in der Tristesse enden müsse. Rășinari könne nämlich – so die Anfangsvorstellungen – nicht schön sein, sofern etwas schön sein kann. Wie anders ließe es sich denn erklären, dass der größte Sohn des Dorfes, Emil M. Cioran, zum großen Skeptiker wurde, zum „Nietzsche vom Balkan“, der selbst Nietzsche an Radikalität und Pessimismus überrundete und sich die Existenz gewissermaßen vom Hals schrieb, weil er sie sich anscheinend vom Hals schaffen wollte. „Es gibt keinerlei Argumente für das Leben“, hat er später geschrieben.

Ein kommunistisches Nichtdorf also müsste Rășinari sein, so unsere Erwartung an diesem heißen Sommertag, ein Unort, eine U-Topie im dem Sinne des Wortes, dass es nicht ein erwünschter Ort in der Zukunft ist, sondern dass er nie zustande kommen möge. Am besten – oder man müsste sagen am schlechtesten – mit Häusern ohne Farbanstrich.

Nix da. Am Ende der Straßenbahnschiene, zwölf Kilometer außerhalb des rumänischen Sibiu, sind die Häuser bunt gehalten, was das Zeug hält. Nicht verkitscht, einfach Ausdruck der Lebensfreude. Ja, renovierungsbedürftig da wie dort. Aber noch lange kein Grund, keine Blumen zu pflanzen oder nicht entspannt auf der Hausbank mit den Nachbarn zu sitzen, umgeben vom Rauschen des kleinen Bächleins, das drei Meter vor der Häuserzeile entfernt Richtung Sibiu fließt. Mit ausländischen Besuchern rechnet man hier in Rășinari, das 1787 von Kaiser Josef II. zum Freien Königlichen Dorf erklärt worden ist, nicht unbedingt. Jedenfalls werden sie verdutzt und wohlwollend zur Kenntnis genommen. Manch einem wird in einer schwachen Minute ein eigenwilliges Souvenir aus der Eigenproduktion angedreht – ein Melkhut etwa, der auch entsprechend nach Landwirtschaft riecht.

Mehr oder weniger im Zentrum des Dorfes, so eine zusammengewürfelte Anzahl von Häusern ein Zentrum haben kann, erinnert eine Plakette und eine Büste an einem Haus daran, dass hier der Schriftsteller am 8. April 1911 zur Welt gekommen ist. Eben hier diente sein Vater, Emilian Cioran sen., als orthodoxer Priester. Sein Sohn nahm die Welt diametral anders wahr. Er habe herzhaft lachen können, heißt es vom Philosophen und Aphoristiker. Geschrieben hat er, dass es eher zum Weinen ist. „Die verfehlte Schöpfung“ heißt eines seiner Bücher bezeichnend. Es deutet darauf hin, dass er vom Buddhismus beeinflusst ist, wenn er schreibt: „Das sicherste Mittel, sich nicht zu täuschen: eine Gewißheit nach der andern zu unterminieren.“ Und es deutet darauf hin, dass er gleichzeitig gegen ein westliches Gottesbild kämpft, wenn er schreibt, dass er keinen Menschen für wert befinde, seine eigene innere Aggressivität auf ihn zu richten: „Man sollte nur Gott angreifen. Nur er ist es wert“.

Tschoran [tʃoˈran] spricht man den Familiennamen im Rumänischen aus. Später ging sein Träger über Zwischenstationen in Bukarest und Berlin nach Paris, wo sein Name dann wohl entsprechend nasal als [sjɔˈʀɑ̃] ausgesprochen wurde.

Ein kleiner Junge, der an diesem heißen Sommertag des 21. Jahrhunderts neben dem Haus in Rășinari mit Steinen spielt und das eben herangefahrene Pferdefuhrwerk im Unterschied zu uns mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit registriert, ohne sich vom Spiel abhalten zu lassen, scheint von alldem nichts zu wissen. Ein Hund hockt an die Hauswand gelehnt und starrt die Pferde unverwandt an. Idyllisch ist es in Rășinari. Zumindest auf den ersten und kurzen Besucherblick. So wie das Leben ja auch. Als wollten die hier verbliebenen Bewohner dem abgewanderten und inzwischen verstorbenen Emil M. Cioran signalisieren, dass alles ja doch nicht so schlimm ist, wenn man sich in den Lauf der Dinge fügt.

Wer am Ende recht haben wird? Wir lassen uns auf das Zwiegespräch des Ortes mit seinem berühmtesten Sohn nicht ein, geschweige denn, dass wir als Schiedsrichter auftreten. Wir kaufen einen Melkhut und ziehen weiter in andere rumänische Orte, die unendlich weniger bunt sind als der Geburtsort des Schwarzsehers.