Bella Napoli

Warum die Stadt am Vesuv immer ein Lächeln in meinem Herzen entfachen wird ...
1997/1998
 
Vor mittlerweile mehr als 20 Jahren, von Herbst 1997 bis Sommer 1998 verbrachte ich ein knappes Jahr als Fremdsprachenassistentin in der Stadt, die mich wie keine andere fesselte, überraschte, beeindruckte, beruhigte, aufregte, vergnügte, beängstigte und die ich wie keine andere liebe.
Die Vielfalt Neapels, mit ihrer unglaublichen Umgebung, den magischen Inseln, den traumhaften Küsten, den einzigartigen Ausgrabungen, dem immer und überall präsenten Vesuv, dem unbeschreiblich köstlichen Essen, dem turbulenten Leben in einer offenen Stadt am Meer, ihren liebenswert originellen Bewohner_innen in sehr unterschiedlichen Stadtvierteln wurden von weitaus berufeneren Menschen sehr treffend beschrieben: Von Luciano de Crescenzo ebenso wie von Elena Ferrante (ihre vier Bände über eine Frauenfreundschaft sind äußerst empfehlenswert).

Warum diese Stadt immer ein Lächeln in meinem Herzen entfachen wird, hat nicht mit all den künstlerischen und landschaftlichen Schönheiten oder der Kulinarik, die diese Stadt bietet, zu tun sondern mit meinen Erlebnissen mit den Bewohner_innen: In Neapel angekommen (ich war davor niemals in dieser Stadt gewesen und all meine norditalienischen und österreichischen Freund_innen waren reichlich überrascht, dass ich mich für diesen Ort entschieden habe) haben mich Kolleg_innen der Schule, in der ich acht Monate Deutsch unterrichten sollte, offen aufgenommen. Ein Kollege hatte mir ein Zimmer in einer Studentinnen-WG besorgt, mitten in der Altstadt, in der via dei Tribunali, gleich ums Eck vom Dom. Im Dom von Neapel wird in Ampullen das Blut von San Gennaro, dem Stadtheiligen, aufbewahrt. Er war Märtyrer und Bischof von Neapel – im Jahr 305 wurde er unter Kaiser Diokletian enthauptet. Jedes Jahr im Mai und im September verflüssigt sich das Blut in der Ampulle nach intensivem Gebet und unter tosendem Applaus der Bevölkerung. Das bringt der Stadt Glück und hält Unglück fern. Mein anfängliches Schmunzeln über diese Geschichte hab ich mir rasch abgewöhnt – das Blutwunder des San Gennaro wird von den Napoletaner_innen (tot)ernst genommen.

Auch meine drei Mitbewohnerinnen waren mit einer Art von Gläubigkeit und Kirchentreue ausgestattet, die mir (obwohl aus der tiefkatholischen Obersteiermark stammend) völlig fremd war: Sie haben es nicht so gern gesehen, wenn mein damaliger Freund anreiste und bei mir übernachtete; auch die Hausmeisterin nicht, eine sehr strenge, korpulente Frau mit ca. sieben kleinen Kindern, die sich um die Portierloge tummelten und darauf warteten, dass endlich die Pasta fertig war. Ihr entging im Übrigen auch kein einziger Brief (ja, man schrieb noch Briefe), der für mich ankam und sie fragte mich konsequent nach der Verwandtschaftsbeziehung zu den Absender_innen – Freundschaften und Bekanntschaften passten nicht so ganz in ihre Vorstellung von Netzwerk. Auch der Besitzer des kleinen Lebensmittelgeschäfts gleich gegenüber verfolgte meine Lebensgewohnheiten mit extremer Neugierde, aber auch mit ehrlichem Interesse. Alles in allem war ich im Viertel gut aufgehoben.

Zwei Episoden aus meinem Schulleben sind mir in besonderer Erinnerung geblieben. Nach ca. einem Monat Unterricht kam es zum Streik der Schüler_innen. Bei der Schule handelte es sich um eine Art Handelsakademie mit rund 1.500 Jugendlichen. Gestreikt wurde, weil ein Hausmeister, der nach seinem Gefängnisaufenthalt im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms in der Schule eine Beschäftigung gefunden hat, Drogen an Schüler_innen verkauft hat. Infolgedessen hat die Direktorin verlautbart, dass der/die erste Schüler_in, der/die mit Drogen in der Schule erwischt wird, die Schule für immer verlassen müsste. Wenige Tage danach flog der erste Schüler von der Schule. Die Konsequenz war, dass alle Schüler_innen den Unterricht bestreikten. Sie wollten erst wieder in die Schule zurückkehren, wenn auch der ausgeschlossene Schüler wieder kommen durfte. Der strikte Streik mit Streikposten vor der Schule endete nach ca. fünf Wochen. Die Direktorin hat nachgegeben. Ich war beeindruckt von der Solidarität der Schüler_innen, der Akzeptanz der Eltern und der differenzierten Diskussion unter den Lehrenden.

Fremdschämen ist wohl das richtige Wort für eine andere Erfahrung im Rahmen des Projekts „La scuola adotta un monumento“. Die Kulturstadträtin hat dazu aufgerufen, dass sich jede Schule einer Sehenswürdigkeit in der Stadt annimmt und an jedem Sonntag im Mai Tourist_innen in der Mutter- und in erlernten Fremdsprachen präsentiert, einerseits um den Jugendlichen klar zu machen, in welch großartiger Stadt mit einzigartigen Kunstschätzen sie lebten und andererseits um ihre Fremdsprachenkenntnisse zu forcieren. „Unsere“ Sehenswürdigkeit war das Kloster San Gregorio Armeno und die Statue des Nil. Mitten im antiken Zentrum der Stadt, dort, wo man das ganze Jahr über Krippenfiguren kaufen kann, ob kunstvoll von Hand gefertigt oder aus billigem Plastik produziert, vom Pizzabäcker oder Berlusconi bis hin zum Esel und dem Jesuskind. Manche meiner Schüler_innen waren das erste Mal im Zentrum der Stadt. Sie waren in Außenbezirken Neapels aufgewachsen und kannten die Sehenswürdigkeiten der Stadt kaum bis gar nicht. Die Aufregung war groß, als wir am ersten Maisonntag vor der Statue des Nils standen und auf Tourist_innen warteten – die Enttäuschung umso größer als die annähernden Gäste, die wahrscheinlich in Sorrento untergebracht waren und einen Tagesausflug in die gefährliche Stadt wagten, von meinen Schüler_innen angesprochen die Taschen festhielten oder sogar davonliefen. Niemand hat den mühsam erlernten Ausführungen der Schüler_innen gelauscht. Am zweiten Sonntag hab ich meinen Südtiroler Freund „hinbestellt“ und ihn gebeten, den interessierten Touristen zu mimen.

Ich bin seit dieser Zeit immer wieder in Neapel gewesen; mit Freund_innen, meinem Mann, meinen Schüler_innen aus Graz. Es zieht mich immer wieder zurück in diese pulsierende Stadt, die eines noch immer nicht verloren hat: Im antiken Herzen der Stadt gibt es noch immer kleine Lebensmittelläden, Fischverkäufer, Schneidereien, Pizzerien, Kartenspieler, Fußball spielende Kinder und Wäscheständer, schnelle Mopeds und herumstreunende Katzen und vor allem ganz normale Bewohnerinnen und Bewohner.

Die klassischen Geschäfte, wie man sie überall in den Metropolen Europas und der ganzen Welt findet, von Zara über H&M zu Bershka gibt es natürlich auch, aber sie sind nicht am Ursprung der griechisch-römischen Stadt erbaut sondern finden sich in den monumentalen Vierteln verschiedenster europäischer Herrscher späterer Jahrhunderte. Die Stadt hat sich verändert, ist wahrscheinlich sicherer, aber auch touristischer geworden, einzelne Stadtteile präsentieren sich herausgeputzter und verkehrsberuhigter, und dennoch ist der Charakter und der Charme der Decumani Napoletani (drei parallel verlaufende Straßen, die bereits die Griechen angelegt haben) aufrecht geblieben.